Pädagogik der Digital Humanities:
Syllabi und Curricula
Digital Humanities theoretisch/praktisch.
Obwohl ich mich mittlerweile eine ganze Zeit lang mit den Digital Humanities befasse, wirkt das Feld in mancher Hinsicht weiterhin fremd. Es ist zwar ziemlich einfach, verschiedene Entwicklungsansätze – auch kritisch – nachzuverfolgen, aber auch mit einem gewissen Grundwissen ist es schwierig, wirklich einzusteigen, wenn man sich etwas abseits der sich neu formierenden Institutionen und Communities befindet. Die recht weitverzweigten und heterogenen Projekte und Ansätze machen die ganze Sache definitiv nicht einfacher.
Wie also besser lernen? Einen Anhaltspunkt dafür könnte die Lehre bieten, die im Kontext der Digital Humanities mittlerweile bereits seit Jahrzehnten entwickelt wird. Digital Humanities stellt ein faszinierendes Problem für geisteswissenschaftliche Pädagogik dar, die sich in den Syllabi, Prüfungsordnung und Modulhandbüchern widerspiegelt. Während Ted Underwood als größte Herausfordung für die Pädagogik der Digital Humanities die Schwierigkeit erachtet, »to make distant reading useful for doctoral dissertations«,1 erkennt Andrew Goldstone drei maßgebliche Problempunkte:
- Die Erarbeitung technischer Kompetenzen und Fähigkeiten nimmt zumeist den Vorrang gegenüber Methodologien zur Analyse quantitativer Datensätze ein. Ersteres ist jedoch kaum nützlich, wenn letzteres nicht zentrale Bedeutung erhält.
- Bis dato gibt es kaum brauchbare Datensätze für die Lehre, diese müssen erst noch erarbeitet werden.
- DH wird häufig als Semesterkurs angeboten, allein für das Erlernen der Methoden quantitativer Datenanalyse ist jedoch deutlich mehr Zeit nötig.2
Während ich allen drei Punkten zustimme, hat mich der erste Punkt wahrscheinlich am meisten zum Nachdenken gebracht. Gerade auch mein provisorisches Curriculum ist stark dahingehend orientiert, technische Kompetenzen zu erwerben. Aus diesen folgt jedoch nicht notwendig die Befähigung, Textanalysen in großem Maßstab durchzuführen oder innovative Schlußfolgerungen zu ziehen. Programmierfähigkeiten an sich implizieren keine Selbstständigkeit in der Lösung geisteswissenschaftlicher Probleme.
Auch an anderer Stelle trifft Goldstone einen Nerv, etwa in der Beschreibung, wie seine StudentInnen in Diskussionen zu Forschungsarbeiten in den Digital Humanities reagierten. Es ist eine Reaktion, die ich am eigenen Leib erfahren habe:
»In our discussions of recent work, two themes recurred: first, my students’ excitement and enthusiasm for the novel possibilities opened up in recent work in studying large-scale aggregates of texts; second, their dissatisfaction with the way this scholarship has analyzed and interpreted its data.«3
Ich hatte dieses Erlebnis etwa angesichts des Papers Turbulent Flow von Hoyt Long and Richard So, in dem die Autoren versuchen, stream of consciousness digital zu modellieren. Nach eigener Aussage konnte das Modell mit einer Präzision von 95% stream of consciousness und ›realistischen‹ Schreibstil differenzen. Long und So wendeten das Modell, das an europäischen Texten (Joyce, Woolf, Proust etc.) trainiert wurde, im Kontext japanischer stream of consciousness-Texte an, um herauszufinden, ob es stabile Eigenschaften des Stils gibt, die kultur- und sprachenübergreifend stabil bleiben. Ihr erstaunliches und faszinierendes Ergebnis: »With the realist texts, the model guessed the true class label with astonishing 97 percent accuracy. Furthermore, only seven features were needed to accomplish this.«4
Gerade diese 97% machen jedoch misstrauisch. Man kann darin leicht Überanpassung vermuten. Zugleich kann man sich fragen, was vom Modell als stream of consciousness identifiziert wird. Die Autoren gestehen ein, dass das Modell Entscheidungen trifft, die Literaturwissenschaftler wahrscheinlich unterlassen würden. So wird ein recht klassisches Werk der romantischen Literatur als eines der am höchsten stream of consciousness-ähnlichen Romane eingeschätzt:
»The text emits a set of rhetorical signals that allies the novel with more canonical examples of SOC, such as Mrs Dal- loway or Nightwood. Of course, Farnol’s novel does not embody SOC in the same way as Woolf’s or Barnes’s. But this novel and others like it, bearing the traces of specific stylistic features, fall well within the pen- umbra of SOC that our model defines, sometimes squarely so.«5
Was also auf den ersten Blick begeistert, löst gleichermaßen eine gewisse Unzufriedenheit gegenüber den Analysean- und maßnahmen aus. Zwar ist der Source Code der Turbulent Flow-Analyse auf Github verfügbar und damit für jeden einsehbar, aber trotzdem bleibt die Überprüfbarkeit abstrakt(er). Normalerweise kann man in den Literaturwissenschaften überprüfen, indem man schlicht selbst den Primärtext liest und die Argumente abwiegt. Mag Data Analysis auch oberflächlich ›objektivere‹ Ergebnisse versprechen, so ist jedes Modell, jede Analyse, immer abhängig von interpretatorischen Vorüberlegungen und -entscheidungen, das muss bedacht werden.
Zurück zur Lehre der Digital Humanities: Goldstones Kritikpunkte zielen keineswegs darauf an, Digital Humanities beziehungsweise im besonderen quantitative Literaturanalyse ›einfach‹ zu machen, sondern eine Lehrsituation zu schaffen, die es »just hard enough« macht.6 Schwierig genug also, dass man darüber nachdenkt, was man gerade eigentlich wie betrachtet, schwierig genug, dass man die methodologischen Herausforderungen stets im Hinterkopf behält.
Anhand der Syllabi zum Thema Digital Humanities auf Humanities Commons und der Studiengangskonzeptionen verschiedener deutscher Universitäten (Würburg, Trier, Stuttgart, München, Lepizig) möchte ich im Folgenden erkunden, wie an die Lehre der Digital Humanities herangegangen wird und welche Aspekte dabei in den Vordergrund gestellt werden.
Syllabi: Kurz und experimentell.
Bereits ein kurzer Überblick über die Syllabi zeigt, dass den Digital-Humanities-Kurs nicht gibt. Zwar sind einige Elemente in vielen der Kursbeschreibungen gegeben, dazu gehören insbesondere Texte aus dem mittlerweile geradezu klassischen Genre »What is Digital Humanities?« sowie prominenterer Vertreter der Disziplin wie Miriam Posner oder Matthew Kirschenbaum, die Foki unterscheiden sich jedoch teilweise deutlich. Neben Kursen, die sich auf die Erarbeitung technischer Fähigkeiten beschränken, lässt sich etwa auch ein Schwerpunkt hinsichtlich Medien- und Techniktheorie erkennen.
Whitney Trettiens Kurs »Technologies of Literary Production«7 etwa zielt darauf ab, »to introduce the history of technologies used to produce and circulate literature«, weswegen neben den üblichen Verdächtigen auch Texte von Vilém Flusser und Friedrich Kittler auf der Leseliste zu finden sind. Letzterer findet sich auch im Einführungskurs von Ted Underwood. Underwood gesteht in seinem Beschreibungstext ein, er könne nicht »pretend to cover (or even introduce) all of those topics in a single semester«,8 weswegen der Kurs großflächig Kontexte, Theorien und Projekte im Umfeld der Digital Humanities betrachtet, ohne sich auf die Erarbeitung von Programmierungsfähigkeiten zu stützen, die in einem weiteren Kurs mit dem Titel »Data Science in the Humanities« im Mittelpunkt stehen. Der Kurs sei damit ein »survey of DH as a social phenomenon«, so Underwood.9
Mehrere Kurse zeigen besonders hinsichtlich der studentischen Arbeit andere und innovative Wege auf. Im Seminar »DIGH5000« von Shawn Graham wurden die Studierenden angeleitet, sich nicht nur mit den Digital Humanities auseinanderzusetzen, sondern diese Auseinandersetzung zu einem digitalen Buch auszuarbeiten, die Ergebnisse sind unter DHCU zu finden. Die Studierenden in Kathi Inman Berens »Digital Literary Studies« befassten sich in Übungen mit »remix and ›deformance‹«,10 Brandon Walshs »Hacking the Book« beinhaltet sogar vier kreative Projekte, die allesamt am Rande konventioneller Vorstellungen des Buchs verortet sind: »a Twine hypertext story, a cut up literature experiment, a Time Mapper spatial project, and a Twitter bot.«.11 Allgemein ist der Begriff des critical making, also des Schaffens von Projekten mit kritischem Anspruch, öfter ein Thema. So auch in einem weiteren Seminar von Shawn Graham, das anstrebt, experimentell mit den Studierenden das Konzept »Guerrilla Digital Public History« erarbeiten möchte:
»You will leave this course with an actual ‘thing’ you’ve created and deployed, and a toolkit of your own. We will do a mixture of activities, readings, and discussions to enable you to ground your guerilla digital history toolkit in the scholarship. You will build this toolkit as you put in train your own act of guerilla digital history.«12
Curricula: Lang und klassisch.
Ein Blick in die Modulhandbücher und Studien- beziehungsweise Prüfungsordnungen der deutschsprachigen Bachelor- und Masterkurse zeigt dagegen ein weitaus klassischeres Verständnis der Digital Humanities als ›Schnittmenge‹ zwischen Informatik und Geisteswissenschaften auf. Dies zeigen allein schon die Formulierungen zum ›Ziel des Studiums‹ der jeweiligen Studiengänge an den Unversitäten Würzburg (BA), Leipzig (BSc) und München (BA, Nebenfach).
Julius-Maximilians-Universität Würzburg:
»Das Studium der Digital Humanities vermittelt die Anwendung von computergestützten Verfahren und die systematische Verwendung von digitalen Ressourcen in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Es handelt sich um ein interdisziplinär ausgerichtetes Fach, dessen Vertreter sowohl durch eine traditionelle Ausbildung in den Geistes- und Kulturwissenschaften ausgewiesen sind wie durch ihre Vertrautheit mit einer Reihe von einschlägigen Konzepten, Verfahren und Standards der Informatik.«13
Universität Leipzig:
»Das Ziel des Studiengangs Digital Humanities ist hierbei die Studierenden in die Lage zu versetzen, Problemstellungen und die dazugehörigen Daten gemäß der aktuellen Ansätze und Standards – aber darüber hinaus auch nach den besonderen Erfordernissen des Einzelfalles – so modellieren zu können, dass sie einer digitalen und maschinellen Bearbeitung zugänglich sind und für eine dauerhafte Bereitstellung und Langzeitarchivierung vorbereitet werden.«14
Ludwig-Maximilians-Universität München:
»Das Ziel des Studiengangs Digital Humanities ist hierbei die Studierenden in die Lage zu versetzen, Problemstellungen und die dazugehörigen Daten gemäß der aktuellen Ansätze und Standards – aber darüber hinaus auch nach den besonderen Erfordernissen des Einzelfalles – so modellieren zu können, dass sie einer digitalen und maschinellen Bearbeitung zugänglich sind und für eine dauerhafte Bereitstellung und Langzeitarchivierung vorbereitet werden.«15
Das Idealziel scheint hier ein programmierender Geisteswissenschaftler, der es vermag, geisteswissenschaftliche Probleme algorithmisch zu modellieren und zu lösen. Insbesondere steht die maschinelle Sprachverarbeitung (natural language processing) im Mittelpunkt. Programmierkurse sind entsprechend häufig und prominent in den Studienordnungen und werden oft aus dem Angebot der Informatikfakultät zusammengestellt. In einigen der Curricula sind zudem auch Programmierpraktika vorgesehen.
Die Studienordnung der Universität Leipzig spricht darüber hinaus noch einen weiteren Punkt an, der in den meisten Curricula wesentlich Raum einnimmt, nämlich die Digitalisierung und Archivierung. An der Universität Trier etwa gehören die Seminare »Digitale Objekte 1: Digitalisierung, Archivierung und Datenerschließung« und »Digitale Objekte 2: Repräsentation, Präsentation und Standardisierung« im MSc Digital Humanities (PO 2017) zu den Pflichtmodulen.16 Ähnlich in Würzburg, wo im Wahlpflichtbereiche Module wie »Digitale Editionen und Korpora« I und II, »Digitale Objekte«, »Digitale Modelle« und »Datenbank« angeboten werden.
Uneinigkeit scheint darüber zu herrschen, wieviel ›klassische‹ Geisteswissenschaft für ein Studium der Digital Humanities notwendig ist. Die Universität Leipzig schreibt für ihren BSc (SO 2016) »Module im Umfang von 60 LP aus dem Wahlbereich der Geistes- und Sozialwissenschaften« vor, was 1/3 des Studienumfangs entspricht. Die MSc-Ordnung in Trier schreibt vor, dass »aus dem Wahlpflichtbereich Geisteswissenschaften und Digital Humanities [] Module im Gesamtumfang von mindestens 10 LP gewählt werden« müssen. Ähnlich sieht die Sache in Stuttgart aus: »In den Modulcontainern „Wahlbereich Informatik“ und „Wahlbereich Geisteswissenschaften“ sind zusammen 30 ECTS-Credits zu erbringen. In jedem der beiden Wahlbereiche sind hiervon mindestens Module im Umfang von 12 ECTS-Credits erfolgreich zu absolvieren.«.17 In der Modulstruktur in der Studienordnung der Universität Würzburg (Fassung 2018) taucht das Wort Geisteswissenschaft dagegen nur ein einziges Mal auf, im Kontext des »Basismodul[s] Informationskompetenz für Studierende der Geisteswissenschaften«.
Was die Studiengänge, soweit dies von den Prüfungs- und Studienordnungen ersichtlich sein kann, damit hauptsächlich vermitteln, ist eine Art der ›Data Science mit textuellen Daten‹. Sie sind effektiv darin, den dritten Problempunkt, den Goldstone anbringt, zu lösen, nämlich die Pädagogik quantitativer Datenanalyse. Die Frage, die angesichts der Studienordnungen schwer zu beantworten bleibt, ist, ob die kritische Hinterfragung der Methodologien dabei zu kurz kommt, oder ob der Erwerb der technischen Fähigkeiten eben durch diese kritische Perspektive erfolgt. Eines bekräftigen die Beispiele jedoch einmal mehr: Digital Humanities, das ist vieles und vieles Disparates.
Fußnoten
-
Underwood, Ted: Two syllabi: Digital Humanities and Data Science in the Humanities., veröffentlicht am 29. Januar 2017, abgerufen am 21. Januar 2019. ↩
-
Vgl. Goldstone, Andrew: Teaching Quantitative Methods: What Makes It Hard (in Literary Studies). In Matthew K. Gold, Lauren F. Klein (Hrsg.): Debates in the Digital Humanities 2018. Minneapolis: University of Minnesota Press. DOI 10.7282/T3G44SKG, S. 2. ↩
-
Ebd., S. 3. ↩
-
Long, Hoyt; So, Richard Jean: Turbulent Flow: A Computational Model of World Literature. Modern Language Quarterly 1 September 2016; 77 (3): 345–367. DOI 10.1215/00267929-3570656, hier S. 358. ↩
-
Ebd., S. 355. ↩
-
Goldstone 2018, S. 14 (Siehe Fn2). ↩
-
Trettien, Whitney: Technologies of Literary Production (grad course, taught Spring 2017), Humanities Commons. ↩
-
Underwood, Ted: Digital Humanities” (syllabus), veröffentlicht am 29. Januar 2017, abgerufen am 27. Januar 2019. ↩
-
Vgl. Underwood 2017 (Siehe Fn1). ↩
-
Berens, Kathi Inman: Introduction to Digital Humanities: Digital Literary Studies, Humanities Commons. ↩
-
Walsh, Brandon: Hacking the Book, Humanities Commons. ↩
-
Graham, Shwan: HIST5702 Winter 2018 Guerilla Digital Public History, Humanities Commons. ↩
-
Fachspezifische Bestimmungen für das Bachelor-Hauptfach Digital Humanities mit dem Abschluss Bachelor of Arts (Erwerb von 120 ECTS-Punkten) an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg vom 26. Oktober 2016 in der Fassung der Änderungssatzung vom 4. Juli 2018, PDF, abgerufen am 27. Januar 2019. ↩
-
Studienordnung für den Bachelorstudiengang Digital Humanities an der Universität Leipzig vom 23. September 2016, PDF, abgerufen am 27. Januar 2019. ↩
-
Prüfungs- und Studienordnung der Ludwig-Maximilians-Universität München für das Studium des Fachs Digital Humanities - Sprachwissenschaften als Nebenfach im Umfang von 60 ECTS-Punkten für Bachelorstudiengänge (2017) vom 29. September 2017, PDF, abgerufen am 27. Januar 2019. ↩
-
Ordnung der Universität Trier für die Prüfung im Masterstudiengang Digital Humanities vom 22. Juli 2014, geändert am 2.03.2017, PDF, abgerufen am 27. Januar 2019. ↩
-
Prüfungsordnung der Universität Stuttgart für den Masterstudiengang Digital Humanities vom 24. Juli 2015, PDF, abgerufen am 27. Januar 2019. ↩